Eine begrünte Fassade für Zürich-West

Im Rücken das letzte innerstädtische Industrieareal, davor rattert ein Tram über die Hardstrasse und der Individual­verkehr rauscht auf der darüber­liegenden Hardbrücke, einer der wichtigsten Verkehrs­achsen der Stadt Zürich. Rechts das schicke Bürogebäude am Schiffbauplatz, links eines aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Fussgänger, Velos, Parkplätze und mittendrin Bahngeleise, auf welchen Güterzüge täglich Getreide zur Mühle am Sihlquai transportieren. Ab und zu ein paar Bäume und Rabatten mit etwas Verlegenheitsgrün. Das neue Geschäftshaus an der Hardstrasse 299/301 liegt nicht eben an Zürichs grüner Lunge. Und es fällt auf.

An der Nord- und Südfassade des sechs­geschossigen Gebäudes wechseln sich über die gesamte Höhe Fenster­bänder mit Pflanztrögen aus grün eingefärbtem Beton ab. Bereits jetzt, wo das Gebäude gerade erst bezogen wurde, wachsen rund 300 Büsche und Sträucher auf einer Fläche von 180 Quadratmetern.

Fassadenbegrünung als integraler Bestandteil des Wettbewerbs

Ende 2016 führte Allreal als Eigentümerin des Escher-Wyss-Areals einen Studienauftrag mit acht renommierten Architektur­büros für den Ersatzneubau eines alten Gebäudes an der Hardstrasse 299/301 durch. Bereits bei der Wettbewerbs­ausschreibung wurde von den teilnehmenden Büros eine Prüfung und Stellungnahme zum Thema Fassadenbegrünung verlangt.

Das siegreiche Architekturbüro Caruso St John Architects, Zürich, hat diese Aufforderung konsequent als integralen Bestandteil des Wettbewerbs­entwurfs aufgenommen. Ferdinand Schmidt, der projektleitende Architekt, erklärt: «Die lineare geschossweise Fassaden­begrünung konnte schon früh im Entwurfs­prozess als Bestandteil der Gebäudestruktur und charakterisierende Komponente des Hauses berücksichtigt werden.» Entwurf und Bepflanzung passen perfekt zusammen, weshalb andere Konzepte der Fassaden­begrünung wie vertikale oder boden­gebundene Kletter­systeme nicht näher in Betracht gezogen wurden. «Der Fokus lag neben dem ökologischen Aspekt auf einem identitäts­stiftenden Element der Begrünung, welche das Haus und den Ort an der Hardbrücke in besonderer Weise prägt», erklärt Schmidt.

Das Landschafts­architekturbüro ghiggi paesaggi Landschaft & Städtebau GmbH hat die zu pflanzenden Büsche und Sträucher so ausgewählt, dass sich im Verlauf der Jahres­zeiten ein ständig wechselndes Fassadenbild ergibt.

Beitrag zur Hitzeminderung in der Stadt

Doch weshalb sollen Fassaden im städtischen Raum überhaupt aufwendig begrünt werden? Die Hitzeminderung im urbanen Raum ist zurzeit eines der meist­diskutierten Themen in Städtebau und Architektur. Menschen in den Städten leiden unter der über­durch­schnittlichen Erwärmung an Hitzetagen. Deshalb suchen die Ämter und Dienst­abteilungen nach Mass­nahmen gegen die Überhitzung. Die Stadt Zürich hat mit der «Fachplanung Hitze­minderung» Anfang 2020 ein über 200 Seiten starkes Arbeits­instrument für städtische wie auch private Eigentümer­schaften geschaffen, um Zürich klima­ökologisch aufzuwerten. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Überwärmung im gesamten Stadtgebiet zu vermeiden, stark betroffene Stadtgebiete gezielt zu entlasten und das bestehende Kaltluft­system der Stadt Zürich zu erhalten.

Beim Thema Fassaden­begrünung, welches eine mögliche Massnahme zur Erreichung dieser Ziele ist, setzt die Stadt Zürich auf Eigen­initiative von Bauherr­schaften und Planenden. Im Rahmen von privaten Bewilligungs­verfahren wird jeweils auf Möglich­keiten und Vorteile von begrünten Fassaden hingewiesen.

Konkret ist da zum einen also der ökologische Aspekt. Jede Vergrösserung der Grünfläche im von versiegelten Ober­flächen dominierten Stadtkreis 5 ist grundsätzlich erstrebenswert. Daraus ergeben sich grössere Rückhalte­flächen für Regenwasser, eine verbesserte Luftreinigung und Staub­bindung sowie eine Erhöhung der Biodiversität.

Andererseits verfügt das Gebäude selbst mit einer begrünten Fassade über einen natürlichen Sonnenschutz und erreicht eine erhöhte Reflexion des Sonnenlichts: Die Temperatur an einer begrünten Fassade kann im Gegensatz zu einer konventionellen Fassade um bis zu 6 Grad gesenkt werden. Gleichzeitig profitieren die Angestellten von einem attraktiven Arbeitsumfeld.

Trotz dieser Vorteile bringt die Fassade aber auch gewisse Nachteile mit sich. Die Konstruktion der Pflanztröge ist komplex und aufwendig. Dies einerseits wegen der notwendigen Installationen für Bewässerung und Entwässerung inklusive Überlaufschutz. Andererseits muss der gegen Absturz gesicherte Zugang für Gärtner über Fenster und Stege jederzeit gewährleistet sein. Dazu kommt die Pflege der Pflanzen, welche zwei- bis dreimal jährlich durchgeführt werden muss.

Ein Puzzleteil im grossen Ganzen

Die leichten Mehrkosten für den Unterhalt der Begrünung seien nie ein Hinderungs­grund für die Umsetzung dieses Projekts gewesen, erklärt Murat Özküp-Steiner, Leiter Projekt­entwicklung von Allreal. «Die Mehrkosten im Gebäude­unterhalt fallen bei den Miet­einnahmen eines Gebäudes in dieser Grösse nicht ins Gewicht. Durch die natürliche Beschattung der Südfassade wird im Sommer sogar weniger Energie für die Kühlung benötigt.» Doch ist das nicht bloss der sprichwörtliche Tropfen auf den heissen Stein? «Isoliert betrachtet, mögen die Mass­nahmen für das lokale Klima marginal sein, trotzdem ist es ein Puzzleteil im grossen Ganzen. Darüber hinaus haben wir im Rahmen des Bauprojekts weitere Massnahmen für die Natur im urbanen Raum geschaffen: Bei der Gestaltung der Umgebung wurden unter anderem Steinhaufen für Eidechsen und Nistplätze für Mauersegler und Turmfalken realisiert.»

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