Zu bauen heisst immer auch, soziale Verantwortung zu übernehmen. Der von Allreal ins Leben gerufene externe Beirat Lebensräume evaluiert bereits realisierte Bauten anhand einer eigens entwickelten Beurteilungsmatrix nachvollziehbar, transparent und systematisch und zieht daraus Lehren für zukünftige Projekte.
Sechs Personen stehen in der Zufahrt zu einer Wohnsiedlung im zürcherischen Adliswil und sind in eine angeregte Diskussion vertieft. «Wie komme ich denn zu dem Hauseingang dort drüben?» «Über den Parkplatz und dann hinter der Hecke wieder zurück.» «Aha … Aber auf dem Schild steht ‹Privat›. Überhaupt wurde das vor allem für Autofahrer gebaut hier ...» «Aber die Wiese da drüben ist schon toll, um Fussball zu spielen.» «Darf man das überhaupt? Da ist ja gleich das Schlafzimmerfenster einer Wohnung.» «Ich glaube schon, aber ja, so klar ist das nicht …» «Ein paar Büsche, und man wüsste gleich, wo der private Bereich beginnt.»
Den Überblick über die Diskussion behält Joris Van Wezemael. Der Privatdozent an der ETH Zürich lehrt Raumplanung, Immobilien und urbane Lebensräume. Als Leiter des von Allreal ins Leben gerufenen externen Beirats Lebensräume hat er an diesem Julimorgen zur Quartiersafari eingeladen. Alle sechs Teilnehmer sind Immobilienspezialisten, und doch hat jeder sein Spezialgebiet, darunter Entwicklung, Portfoliomanagement, Realisation oder Nachhaltigkeit.
Das Quartier heisst Dietlimoos und wurde zwischen 2007 und 2012 von Allreal entwickelt und realisiert. Es besteht aus drei Teilbereichen mit insgesamt 461 Miet- und Eigentumswohnungen und war die erste Etappe einer grossen Erweiterung des Siedlungsgebiets im Nordosten der Stadt Adliswil.
Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie verpflichtet sich Allreal, bei der Entwicklung und Realisation von Bauprojekten soziale Verantwortung zu übernehmen. Im Dezember 2022 hat Allreal deshalb den externen Beirat Lebensräume ins Leben gerufen. Er soll die Ausgestaltung bereits von Allreal realisierter öffentlicher und halböffentlicher Lebensräume beurteilen und daraus Empfehlungen für zukünftige Projekte formulieren. Immer mit dem Ziel, bereits bei der Ausschreibung von Studienaufträgen und Projektwettbewerben und später bis in den Betrieb der Liegenschaften hinein eine möglichst hohe Lebensraumqualität sicherzustellen. Das Gremium setzt sich zurzeit aus vier festen Mitgliedern zusammen und evaluiert interdisziplinär rund zwei Areale oder grössere Projekte pro Jahr.
Oft fällt es Unternehmen schwer, über Qualität zu urteilen, wenn es die eigene Arbeit betrifft.
Joris Van Wezemael, Leiter externer Beirat LebensräumeDie Anwendung der Matrix
Mittlerweile haben sich die sechs Teilnehmer in Gruppen aufgeteilt und ziehen los, um die drei Teilareale in Adliswil im Detail unter die Lupe zu nehmen. Wie sind die Grenzen zwischen öffentlichen und halböffentlichen Räumen gestaltet? Gibt es gemeinschaftliche Nutzungen, die das soziale Leben unterstützen? Wie sind Freiräume, die Möblierung und die Bepflanzung umgesetzt?
Damit bei der Beurteilung persönliche Vorlieben und Geschmäcker keine Rolle spielen, hat Joris Van Wezemael mit seinem Team ein standardisiertes und einfach zu nutzendes Beurteilungsinstrument entwickelt. Es basiert auf bereits bestehenden Evaluationssystemen aus den Bereichen Nachhaltigkeit und Raumplanung und ermöglicht den Teams, nach der immer gleichen Systematik vorzugehen. Dabei werden die Lebensräume in verschiedene Dimensionen wie «Städtebau», «Gesicht des Hauses und Erdgeschosszone» oder «Nutzungsangebot im Freiraum» eingeteilt. Anschliessend kann anhand vordefinierter Schlüsselkennwerte beurteilt werden, welche Qualitäten ein Projekt in jeder Dimension erreicht hat.
Als Pilotprojekte für die Ausarbeitung dieser Messmatrix dienten 2022 die beiden grossen Arealentwicklungen von Allreal in den letzten 20 Jahren, Richti Wallisellen und Bülachguss.
Nach fast drei Stunden Umherstreifens zwischen Maschendrahtzäunen und Spielgeräten, auf Trampelpfaden, einsamen Wiesen und geteerten Plätzen trifft sich die Safarigruppe noch einmal zu einem letzten Austausch und zum Vergleich der Beurteilungen. Grösstenteils ist man sich einig. Beispielsweise hätte ein Verbinden der drei von verschiedenen Architekturbüros gestalteten Teilbereichen zu einem grossen Ganzen dem Quartier gutgetan, ebenso Bereiche, die sich Bewohnerinnen und Bewohner aneignen und frei gestalten können. Und sicher ist auch, dass was im Jahr 2007 als «urbanes Wohnen» vermarktet wurde, mit der heutigen Vorstellung von Urbanität nicht mehr viel zu tun hat.
Ein potentes Werkzeug haben wir jetzt. Nun geht es darum, was wir konkret aus den Ergebnissen lernen.
David Guthörl, Leiter Nachhaltigkeit bei AllrealDas wirft die Frage auf, ob es denn überhaupt sinnvoll ist, ein Projekt, das vor mehr als zehn Jahren realisiert wurde, aus heutiger Sicht zu beurteilen. Ja, ist Joris Van Wezemael überzeugt, und überhaupt sei es ja keine Kritik im engeren Sinne. «Es geht grundsätzlich darum, Lehren zu ziehen, Erfahrungen zu machen und für die Zukunft zu lernen.»
Darüber hinaus wird auch erst nach einiger Zeit sichtbar, auf welche Art und Weise Bewohnerinnen und Bewohner mit einer Wohnumgebung interagieren und ob die auf dem Reissbrett geplanten Massnahmen auch funktionieren.
Was sich, ganz unabhängig von den Beurteilungen entlang der Matrix, festhalten lässt, ist, dass der Teufel oft im Detail steckt. Interessante architektonische Ansätze und gute Ideen wurden teilweise auf den letzten Metern der Umsetzung noch vergeben, was schade ist. Die Gründe dafür können vielerlei Natur sein. Beim Betrachten neuerer Areale stellt man fest, dass diverse Ansätze, die im Dietlimoos noch vermisst wurden, bereits umgesetzt sind. Trotzdem ist es wichtig, dass wir bei zukünftigen Projekten von Beginn weg klar definieren, wer ein Projekt von der Wettbewerbsausschreibung bis zur Fertigstellung begleitet und dafür sorgt, dass die Qualität nicht auf der Strecke bleibt. Auch dabei bietet das Beurteilungsinstrument Hilfe und trägt so zur Qualitätssicherung bei.
Im Laufe des zweiten Halbjahrs 2023 wird sich der Beirat, wie immer ergänzt durch zusätzliche interne und externe Fachleute, das nächste Mal treffen. Dann, um das Ende 2020 fertiggestellte Grünhof-Areal in Zürich anzuschauen. Angeregte Diskussionen sind bereits sicher. Und hocherwünscht.